Standortbestimmung aus Anlass der internationalen Finanzkrise aus der Sicht von Handwerk und Mittelstand, 24. August 2009.Orientierungen in der Krise: Das Verhältnis von Markt und Staat in der Sozialen Marktwirtschaft

A. Ausgangssituation

Das Verhältnis von Handwerk und Mittelstand zur Sozialen Marktwirtschaft war keine Liebe auf den ersten Blick. Zwar war der Boden bereitet durch die negativen Erfahrungen von Handwerk und Mittelstand mit der Mangel- und Bezugsscheinwirtschaft vor und nach 1945. Aber erst als in den Jahren nach der Währungsreform des Jahres 1948 mit dem „Wirtschaftswunder“ die D-Mark-Stücke in der Tasche der Handwerker und der Mittelständler „klimperten“, wurde eine wirkliche Liebe daraus. Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft wurde zur ordnungspolitischen Heimat von Handwerk und Mittelstand; sie war das Koordinatensystem, an dem man sich orientierte. Soziale Marktwirtschaft wurde für Handwerk und Mittelstand ein Teil ihres Selbstverständnisses und sie ist es bis heute geblieben. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise scheint eherne Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft in Frage zu stellen und verunsichert damit Handwerk und Mittelstand im Kern ihres bisherigen ordnungspolitischen Selbstverständnisses. Was zum Beispiel sollen Handwerk  und Mittelstand vom Vormarsch staatlicher Interventionen halten, den wir z. Z. erleben und den wir in diesem Ausmaß bis vor kurzem noch für undenkbar gehalten hätten? Sicherlich sind diese staatlichen Interventionen zum erheblichen Teil eine unvermeidliche Reaktion auf die Krise. Dennoch alarmiert der mit diesen Interventionen verbundene staatliche Machtzuwachs Handwerk und Mittelstand, denn in der klaren Ablehnung übermäßiger Machtzusammenballung – sei es eine staatliche oder eine private – waren sie sich bislang immer einig. Da sich das Kräfte-Parallelogramm zwischen Markt und Staat  offensichtlich verschiebt, ist eine ordnungspolitische Standortbestimmung notwendig. Handwerk und Mittelstand müssen sich daher heute erneut Rechenschaft darüber ablegen, ob die durch Ludwig Erhard und seine Mitstreiter entwickelten Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft weiterhin gültig sind und welche Rolle Staat und Markt darin spielen.

Vor 60 Jahren ist in einem Gründungsdokument zur Sozialen Marktwirtschaft folgende zentrale Aussage formuliert worden:

„Die ‚Soziale Marktwirtschaft’ ist die sozial gebundene Verfassung der gewerblichen Wirtschaft, in der die Leistung freier und tüchtiger Menschen in eine Ordnung gebracht wird, die ein Höchstmaß von wirtschaftlichem Nutzen und sozialer Gerechtigkeit für alle erbringt. Diese Ordnung wird geschaffen durch Freiheit und Bindung, die in der „Sozialen Marktwirtschaft“ durch echten Leistungswettbewerb und unabhängige Monopolkontrolle zum Ausdruck kommen.“

Diese Formulierungen sind später verkürzt wie folgt interpretiert worden:

In der Sozialen Marktwirtschaft seien wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Das erscheint eingängig und plausibel. Die Soziale Marktwirtschaft ist erstens sozial, weil sie ohne Mitmenschen nicht auskommt, die sie als Anbieter und Nachfrager miteinander in Kontakt bringt. Die Soziale Marktwirtschaft ist zweitens sozial, weil sie so produktiv ist und dadurch den Verbrauchern eine Güterfülle zur Verfügung stellt, von der die Menschen im Sozialismus nur träumen können. Die Soziale Marktwirtschaft ist drittens sozial, weil sie durch ihre enorme Produktivität Ressourcen für erstaunlich umfangreiche Maßnahmen des sozialen Ausgleichs und der Bewahrung der Schöpfung auch für künftige Generationen zur Verfügung stellt.

Insofern ist die Formulierung berechtigt, in der Sozialen Marktwirtschaft seien wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten einer Münze. Diese Formulierung beinhaltet aber gleichwohl eine Gefahr: Wirtschaftliche Effizienz und sozialer Ausgleich sind nicht in jedem Fall  miteinander kompatibel. Wenn nämlich der soziale Ausgleich übertrieben wird, dann kann die wirtschaftliche Vernunft auf der Strecke bleiben. Die Geschichte der Bundesrepublik und der Sozialen Marktwirtschaft zeigt, dass die soziale Seite dieser Münze außer Form geriet und die Seite der wirtschaftlichen Vernunft immer mehr zu kurz gekommen ist.

Exakt dies ist die Ursache dafür, dass unser Land schon vor der jetzigen Finanz- und Wirtschaftskrise mit einer sehr hohen (expliziten und impliziten) Staatsverschuldung und einer für Friedenszeiten hohen Staatsquote von ca. 45 Prozent belastet gewesen ist. Wenn nun in der Krise Staatsverschuldung und Staatsinventionismus krass zunehmen und dadurch die Gewichte von Staat und Markt noch stärker außer Balance geraten, stellt sich die Frage, ob unser bisheriger ordnungspolitischer Kompass noch funktioniert.

B. Markt und Staat

In Stunden der Not können außerordentliche Maßnahmen unvermeidlich sein. Wenn der Exitus droht, ist sofortige Reanimierung angesagt. Anschließend aber muss dann eine umfassende Diagnose und Ursachen-Therapie nach dem neuesten Stand ärztlicher Erfahrung einsetzen. So nicht anders auch in der Wirtschaftspolitik. Deshalb müssen jetzt auf Grund der durch die Krise gemachten Erfahrungen auch das Pflichtenheft staatlicher Wirtschaftspolitik und der Vorbehaltsbereich des Marktes neu bestimmt werden.

Die Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft haben uns hierfür folgende Grundregel mitgegeben:

Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft und nicht die Steuerung der Wirtschaftsprozesse. Dieser Satz ist grundlegend für die Abgrenzung der Aufgabenbereiche von Staat und Markt.

1. Ordnungsrahmen

Marktwirtschaft benötigt einen Ordnungsrahmen. Bei der Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft sollte sich die Wirtschaftspolitik an folgenden Prinzipien orientieren:

  1. Wahrung der Vertragsfreiheit, die den Akteuren freie Vereinbarungen mit ihren Marktpartnern ermöglicht, allerdings eine Grenze dann findet, wenn sie dazu missbraucht wird, den Wettbewerb etwa durch Marktabsprachen zu behindern oder zu beseitigen
  2. Schutz der Geldwertstabilität, die den Unternehmen eine sichere Planungs- und Kalkulationsbasis bietet
  3. Sicherung des Leistungswettbewerbs und damit des Strebens nach Wettbewerbspreisen, die mittels eines funktionsfähigen Preismechanismus eine effiziente Allokation der Produktionsfaktoren sichern
  4. Gewährleisten offener Märkte, die das Entstehen von Machtpositionen aufgrund fehlenden Leistungswettbewerbs verhindern
  5. Stärkung der Haftung als Bremse im unternehmerischen Entscheidungskalkül, die die Verantwortung für die Verwendung der Ressourcen den dezentralen Entscheidungsträgern zuweist und diese für die Folgen der Entscheidungen in die persönliche Haftung stellt
  6. Schutz des Privateigentums, das im Rahmen der im Artikel 14 des Grundgesetztes aufgezeigten Grenzen die Freiheit der Entscheidungen gewährleistet, den Ertrag von Leistungen dem Leistungsträger in eigener Verantwortung zugesteht und zur Selbstverantwortung befähigt
  7. Konstanz der Wirtschaftspolitik, die einen verlässlichen, auf Langfristigkeit angelegten ordnungspolitischen Datenkranz für die Unternehmen schafft und
  8. Beachtung der Interdependenzen dieser grundlegenden Prinzipien und Verzicht auf isolierte Maßnahmen ohne Blick auf den ordnungspolitischen Gesamtzusammenhang.

Die dargestellten Prinzipien, die auf Walter Eucken zurückgehen,  betreffen den Ordnungsrahmen der Wirtschaft, der durch staatliches Handeln geschaffen werden muss. Markt und Wettbewerb sind nicht automatisch da, sondern müssen durch rechtsschöpferischen Akt (u. a. durch Festlegung einer Eigentumsordnung) konstituiert werden. Hier ist der Primat der Politik unbestritten. Maßstab ist dabei das Gemeinwohl. Jedes Einzelinteresse hat demgegenüber zurückzustehen. Das Gemeinwohl ist auch Messlatte für die vom Staat bereitzustellende Infrastruktur. Staatliche Aufgabe ist es, nur die Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, die für alle da ist.

Welchem der aufgeführten konstituierenden Prinzipien in einer aktuellen Situation die größte Aufmerksamkeit gebührt, hängt davon ab, welches Prinzip in der betreffenden geschichtlichen Phase am stärksten missachtet worden ist.

In der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise und ihrer Vorgeschichte ist wohl am stärksten das Prinzip der Haftung verletzt worden, d. h. das Prinzip des Einstehens und der Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger für die Folgen ihrer Entscheidungen. In immer mehr Bereichen werden Systeme der Auslagerung von Verantwortung erfunden. Das System der Rating-Agenturen z. B. beruht darauf, dass Banken ihre unternehmerische Kernaufgabe, nämlich die Abschätzung der Bonität von Kreditnehmern, auf Ratingagenturen verlagern und insofern Verantwortung abwälzen. Wenn etwas schief läuft, wäscht man unter Bezug auf das Rating-Urteil die Hände in Unschuld.

Entscheidungsprozesse werden immer stärker anonymisiert. Nur selten lässt sich im Bereich von Großorganisationen jemand identifizieren, der für eine getroffene Entscheidung die Verantwortung trägt und für ihre Folgen haftet. Organisierte Verantwortungslosigkeit ist zum vorherrschenden Strukturprinzip in Wirtschaft und Gesellschaft geworden. Hier liegt der Ursachenkern der weltweiten Krise. Exakt an diesem Punkt muss die Umkehr einsetzen. Die Therapie wird vor allem darin bestehen, dass der Staat dem Prinzip der Haftung auf der Ebene der Entscheidungsträger stärkere Geltung verschafft.  Das Haftungsprinzip steht gegenwärtig im Fokus; d. h. ihm gehört z. Z. unter den konstituierenden Prinzipien die „Krone“. Aber die enge Interdependenz mit den anderen Prinzipien muss stets im Blick bleiben. So kann es sein, dass z. B. auf Grund der Politik forcierter Staatsverschuldung rasch das Prinzip des Schutzes der Geldwertstabilität in der Prioritäten-Skala staatlicher Politik an die erste Stelle rückt.

2. Wirtschaftsprozesse

Kein Primat der Politik gilt für die Steuerung der Wirtschaftsprozesse. Bei den Wirtschaftsprozessen geht es um Güterproduktion und deren Absatz, um das Sparen und Investieren individueller Wirtschaftsakteure. Bei Wirtschaftsprozessen hat der Markt in Form des freien Leistungswettbewerbs den Vorrang. Denn der Markt ist das beste Koordinierungssystem, um individuelle Wünsche zu befriedigen und die Konsumentensouveränität zu sichern. Der Kunde ist König nur in der Marktwirtschaft, nicht in der Zentralverwaltungswirtschaft. Unternehmerischer Leistungswettbewerb ist der Motor für Innovation, für Strukturwandel und letztendlich für unseren Wohlstand. Der Staat muss sich aus den Wirtschaftsprozessen heraushalten.

Allerdings muss der Staat aufpassen, dass nicht Unternehmen, vor allem größere, versuchen, durch Kartell- und Monopolbildung Konkurrenz zu beseitigen. Genauso wenig wie den Feinden der Demokratie die Freiheit eingeräumt werden darf, die Demokratie abzuschaffen, darf den Feinden des Wettbewerbs erlaubt werden, den Wettbewerb zu beseitigen.

Kritisch wird es auch, wenn der Staat durch seine Rechtsordnung den Unternehmen haftungsbegrenzende Rechtsformen als Privileg zur Verfügung stellt, die es den Unternehmensleitern von Publikums- Aktiengesellschaften ermöglichen, weitreichende Entscheidungen zu treffen, ohne für die Folgen dieser Entscheidungen persönlich geradestehen zu müssen. Hier bietet das gegenwärtig gültige Aktienrecht zwar mehr Möglichkeiten zum Geltendmachen von Haftungsansprüchen als weithin angenommen. So gehört es zu den Sorgfaltspflichten des Vorstands einer Aktiengesellschaft, für sein Unternehmen kein Risiko einzugehen, das so groß ist, dass, wenn es sich verwirklicht, das Unternehmen untergeht. Solche Risiken sind von Vorstandsmitgliedern von sehr wichtigen Unternehmen in der zurückliegenden Krise in erschreckenden Umfang eingegangen worden. Es ist dann schief gegangen. Gewaltige Werte sind vernichtet worden. Banken wären untergegangen, wenn der Staat sie mit dem Geld des Steuerzahlers nicht gerettet hätte. Für den angerichteten Schaden müssen Vorstandsmitglieder, die solche Risiken eingegangen sind, nach geltendem Recht haften. Dazu müssen die betreffenden Vorstandsmitglieder aber von ihrem Aufsichtsrat verklagt werden. Dies passiert sehr selten, da die Aufsichtsräte zumeist in den Vorgang verwickelt sind und befürchten, selbst ebenfalls zum Schadenersatz herangezogen zu werden. Bei der Durchsetzung von Haftungsansprüchen in Publikums-Aktiengesellschaften versagt bislang die gesetzliche Lösung. Hier ist der Gesetzgeber gefordert.

Der Staat muss deshalb die Haftung von angestellten Vorstandsmitgliedern ein Stück weit der von Eigentümer-Unternehmern annähern und dadurch dem „Aktien- und Verschachtelungskapitalismus“ – dieses Wort stammt von Wilhelm Röpke – endlich Zügel anlegen. Der kollektiv-kapitalistischen Unternehmensform der Publikums-Aktiengesellschaft muss eine neue Verantwortungskultur – wie sie echte Eigentümer wahrnehmen würden – implantiert werden. Die Nicht-Existenz echter Eigentümer ist schließlich das große Problem der Publikums-Aktiengesellschaft. Der rechtliche Eigentümer, d. h. der normale Aktionär, nimmt diese Funktion leider nicht wahr.

Dieser Strukturdefekt erfordert den ordnungspolitischen Eingriff, indem das bislang durch das Aktiengesetz gewährte Privileg der Haftungseinschränkung für die Entscheidungsträger auf der Ebene  von Vorstand und Aufsichtsrat verringert wird.

Gleichzeitig muss die staatliche Bevorzugung der großen Kapitalgesellschaften z. B. durch eine unzureichende Rechtsformneutralität der Besteuerung und eine vornehmlich auf die Bedürfnisse von Großbetrieben ausgerichtete staatliche Sozialpolitik korrigiert und die sich daraus ergebende wettbewerbliche Diskriminierung des Mittelstandes beseitigt werden.

Die Beseitigung dieser Diskriminierungen war schon ein starkes Anliegen der Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft. Wenn der Staat den Ordnungsrahmen in diesen zentralen Punkten und vor allem beim Thema Haftung nachjustiert hat, ist Entscheidendes für das (erneute) Funktionieren der Wirtschaftsprozesse getan. Dabei bleibt für Handwerk und Mittelstand folgender Satz grundlegend: Unternehmerisches Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft ist der vollhaftende Eigentümer-Unternehmer. Die Unternehmer sind die Risikoträger, sie realisieren im Erfolgsfall Gewinne und tragen im Misserfolgsfall Verluste. In dieses Geschäft sollte sich der Staat nicht einmischen. Es gilt insoweit das alte Wort von Adam Smith, dass jeder Staatsmann töricht und dünkelhaft handelt, der Privatleuten Vorschriften über die Verwendung ihrer Kapitalien macht.

3. Ethische Voraussetzungen der Marktwirtschaft

Ohne die Wirksamkeit des Marktes erschlaffen die Antriebskräfte der Menschen und bleiben Freiheit und Wohlstand und dann auch Gerechtigkeit auf der Strecke. Der Markt hat sich durch seine Fähigkeit zur Freisetzung der Produktivkräfte als die beste bislang von Menschen erdachte Ordnung erwiesen, um eine möglichst umfassende Güterversorgung für immer mehr Menschen sicherzustellen. Aber im Markt erschöpft sich nicht das Wesen einer freiheitlichen und sozial gebundenen Gesellschaftsverfassung.

Die  Marktwirtschaft lebt von ethischen Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen kann. Zwar zwingen auch die im Markt kontinuierlich stattfindenden Tauschakte die Marktpartner zu einem Mindestmaß an Ehrlichkeit. Produktversprechen und Produktqualität müssen möglichst zusammenfallen, damit die Kunden nicht abwandern. Die Welt der Wirtschaft schöpft jedoch aus umfangreicheren sittlichen Reserven, als sie durch das Eigeninteresse der Marktpartner herbeigezwungen werden.

Die Wirtschaft gründet auf einem ethischen Kapital, das in einem säkularen geschichtlichen Prozess angesammelt worden ist und als kultureller Code das Handeln der Wirtschaftsakteure über lange Zeit geprägt hat. Markt, Wettbewerb und das Spiel von Angebot und Nachfrage erzeugen dieses ethische Kapital nicht, sondern verbrauchen es und müssen es aus den Bereichen jenseits des Marktes beziehen. Gerechtigkeitssinn, Fairness, Selbstdisziplin, Leistungsbereitschaft, Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen – das alles sind Werthaltungen, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie sich auf den Märkten betätigen (Wilhelm Röpke).

Solche Werte jenseits von Angebot und Nachfrage sind unentbehrliche Stützen. Sie bewahren die Menschen davor, dass die weniger guten Neigungen in ihnen die Überhand gewinnen. Vor allem aber ist ohne sie Lebenssinn und Freude am Mittun in der Gesellschaft schwer vorstellbar. Die kleineren Lebenskreise in Familie, Nachbarschaft, Gemeinden, Betrieben, Vereinen und Initiativen haben hier eine unverzichtbare Funktion.

Nähe führt zu Verantwortung, Verantwortung braucht Nähe.

Auf diese Voraussetzungen hinzuweisen, ist Daueraufgabe aller Verantwortlichen in Wirtschaft und Gesellschaft . Ein Gemeinwesen, das nur durch materielle Interessen zusammengehalten wird, wird auch materiell seine Zukunft verlieren. Moral ist ein so knappes Gut, dass man sparsam mit ihr umgehen muss. Den einzelnen Menschen sollte man nicht mit zu hohen moralischen Standards überfordern. Persönliche Interessen und moralische Anforderungen sollten sich möglichst miteinander verbinden. Deshalb ist es wichtig, durch die Rahmenordnung Strukturen zu schaffen, die moralisch wertvolles Verhalten begünstigen.

Aber keine noch so gute Struktur kommt ohne eine „eiserne Ration“ an ethischem Kapital aus, das die  Menschen in freier Entscheidung für sich selbst als Maßstab akzeptieren. Die „Struktur-Ordnung“ benötigt die Unterstützung durch eine gelebte „Werte-Ordnung“. Berufsethische Prinzipien und Leitbilder wie der des „ehrbaren Kaufmanns“, des „ehrbaren Handwerks“ und des „vertrauenswürdigen Bankiers“ sowie Begriffe wie „Anstand“ und „moralische Glaubwürdigkeit“ zeichneten die Soziale Marktwirtschaft aus und gehörten zu ihrem Erfolgsrezept. Es gilt, an diese berufsethischen Prinzipien erneut anzuknüpfen.

Die gegenwärtige Krise lehrt uns, dass Wertentscheidungen unerlässlich sind – Wertentscheidungen für Freiheit, für Machtbegrenzung, für Dezentralität, für Verantwortung und für Maß und Mitte.

C. Das Prinzip Soziale Marktwirtschaft und die Finanz-, Konjunktur- und Strukturkrise sowie die Krise der Sozialsysteme

Es ist naheliegend, den Versuch zu unternehmen, das Prinzip Soziale Marktwirtschaft in der dargestellten Zuständigkeitsverteilung für Staat und Markt auf die aktuelle Krise in ihrer vierfachen Dimension als Finanzkrise, Konjunkturkrise, Strukturkrise und Krise der Sozialsysteme anzuwenden.

Finanzkrise

Im Hinblick auf die Finanzkrise ist unstrittig, dass ein Ordnungsdefizit vorhanden ist und dass der Staat verpflichtet ist, dieses Ordnungsdefizit zu beseitigen. Eine arbeitsteilige Wirtschaft ist ohne ein funktionierendes Geld- und Kreditwesen in ihrer Existenz bedroht. Deshalb war der Bankenrettungsschirm ordnungspolitisch grundsätzlich notwendig genauso wie weitere Maßnahmen der Bankenregulierung unerlässlich sind. Statt eines Regulierungsübermaßes ist es besser, sich auf wenige einfache Regeln zu konzentrieren, deren Einhaltung aber nachhaltig überwacht wird. Die zu treffenden Maßnahmen sollten auf folgenden einfachen Grundsätzen beruhen:

  • Alle Risiken gehören in die Bilanzen der Banken.
  • Wer Risiken eingeht, muss auch dafür gerade stehen.
  • Wer Kredite vergibt, muss auch für ihre Tilgung in die Pflicht genommen werden.
  • Kein Freifahrtschein für staatliche Schuldenpolitik

Aus diesen Grundsätzen sind folgende Handlungserfordernisse für die Politik abzuleiten:

  • Durchführung regelmäßiger Manöver und Planspiele der Zentralbanken, Bankenaufsichtsbehörden und Regierungen zur rechtzeitigen Abwehr künftiger Finanzkrisen
  • Verzicht auf die Umstellung der Bilanzbewertungsmethoden vom Niederstwert-Prinzip zum sog. fair-value-Prinzip gemäß dem Internationalen Rechnungslegungsstandard
  • Aufgabe der zweigeteilten Finanzaufsicht bei Bafin und Bundesbank und Ersetzung durch eine einheitliche Aufsicht
  • Beseitigung perverser kurzfristiger Anreizsysteme bei Entscheidungsträgern in Banken und ihre Neuorientierung an langfristig erzielten Erfolgen
  • Einführung eines verpflichtenden Selbstbehaltes des Verkäufers bei der Verbriefung und Weitergabe von Krediten und Finanzprodukten zur Stärkung des Verantwortungs- und Risikobewusstseins
  • Die Banken- und Finanzaufsicht darf bei ihren eigenen bankenaufsichtsrechtlichen Prüfungen dem Urteil von Ratingagenturen keinen ungebührlichen Stellenwert einräumen, d. h. ungeschmälerte Selbstverantwortlichkeit der kreditgebenden Banken für die Bonitätseinschätzung ihrer Kreditnehmer.
  • Beseitigung der prozyklischen Wirkungen der Basel II- Regeln, sukzessive Erhöhung der Eigenkapitalhinterlegungspflichten in Richtung Basel I / Entsprechend US-amerikanischer Praxis Verzicht auf die Verpflichtung zur Anwendung des Basel II-Regelwerks für Banken, die nur der regionalen Kreditversorgung dienen
  • Gründung eines Finanz-TÜV’s für neue Finanzanlageprodukte analog zum Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel
  • Die Glaubwürdigkeit und disziplinierende Wirkung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse muss durch Fortführung der Förderalismus-Reform gestärkt werden.

Das Problem "too big to fail"

Wenn Banken so groß werden, dass ein Staat sie nicht mehr pleite gehen lassen kann, dann wird die Chance vom Risiko getrennt. Die Gewinne werden dann privatisiert und Verluste sozialisiert. Diese Problematik wird in der Öffentlichkeit unter der Überschrift „too big to fail“ diskutiert. Wenn das Prinzip Haftung für getroffene Entscheidungen z. B. für eine große Bank nicht mehr gilt, dann ist Marktwirtschaft nicht mehr möglich. Das damit verbundene Erpressungspotential gegenüber der Politik ist mit der Freiheitlichkeit einer Gesellschaft nicht vereinbar. Folgender Grundsatz sollte maßgeblich sein:

Chance und Risiko müssen auch bei großen Banken ungetrennt Geltung haben. Unternehmen dürfen nicht so groß werden, dass im Krisenfall der Staat für ihre Verluste aufkommen muss.

Aus diesem Grundsatz sind folgende Handlungsalternativen abzuleiten:

  • Durchsetzung einer neuen Insolvenzordnung für Banken gemäß Plänen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel, durch die im Krisenfall für das Gesamtsystem lebensnotwendige Betriebsteile bei Haftung der Eigentümer und Unternehmensvorstände umgehend auf eine neue rechtliche Einheit übertragen werden und der Rest ohne unakzeptable Folgen in Insolvenz gehen kann. Die staatliche Zwangsverwaltung für angeschlagene Banken gemäß dem Vorschlag von Bundeswirtschaftsminister von Guttenberg ist ein wichtiger ergänzender Vorschlag zur Neuordnung des Insolvenzrechtes für systemrelevante Banken.
  • Ansteigen der Eigenkapitalhinterlegungsverpflichtungen mit zunehmender Größe einer Bank als automatische Bremse gegenüber einem Hineinwachsen in systemrelevante Betriebsgrößenordnungen. Dadurch steht im Krisenfall mehr Eigenkapital zur Verfügung. Analoge zunehmende Haftungsverpflichtungen von Vorständen und Aufsichtsräten systemrelevanter Banken mit zunehmender Bankgröße (über die Vorstands- und Aufsichtsratshaftung „normaler“ nicht-systemischer Aktiengesellschaften hinaus). Die Gehälter des Vorstandes solcher systemischer Banken sollten vom Aufsichtsrat beschlossen, aber der Billigung der Hauptversammlung der Gesellschaft (also der Zustimmung der Eigentümer) bedürfen.

 Sollten die vorstehenden Vorschläge am Widerstand von Interessengruppen scheitern, sind auch härtere Maßnahmen bishin zur Entflechtung von Banken auf eine Betriebsgrößenordnung, bei der eine Insolvenz ohne Systemschaden möglich ist, in den Fokus zu nehmen.

  • Aufgabe der Kartellämter muss (neben der Wahrung des Konsumentennutzens) verstärkt die Begrenzung wirtschaftlicher Macht zur Eindämmung von Erpressungspotentialen großer Unternehmen gegenüber dem Staat sein. Wettbewerb ist das genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte (Franz Böhm). Eine Revitalisierung der Wettbewerbspolitik sollte vornehmlich diesem Ziel dienen. Dies stärkt automatisch dezentrale Strukturen im Sinne des Mittelstandes.

Wenn eine konservative Institution wie die Schweizerische Nationalbank Vorschläge zur Größenbegrenzung von Banken der Öffentlichkeit unterbreitet, macht dies deutlich, dass Betriebsgrößen von Banken, deren Untergang ganze Länder gefährdet, inzwischen als existenzielles Problem gesehen werden. Es zeigt den Ernst der Lage, dass diese Debatte auf analoge Problematiken von systemrelevanten Betriebsgrößenordnungen bei Versicherungen und Energieversorgern ausgedehnt wird.

Konjunkturkrise

Bei der Anwendung des Prinzips Soziale Marktwirtschaft auf die gegenwärtige Konjunkturkrise besteht die Schwierigkeit darin, dass sich Finanz-, Konjunktur- und Strukturkrise sowie die Krise der sozialen Sicherungssysteme überlagern und die Wechselwirkung zwischen den vier Krisendimensionen unberechenbar ist. Für die Wirtschaftspolitik ist es z. B. schwer abschätzbar, wie eine konjunkturelle Maßnahme in einer Branche wirkt, die sich zusätzlich in einer Strukturkrise befindet.

Unabhängig davon wird heute eine konjunkturpolitische Steuerungsfunktion des Staates als grundsätzlich ordnungspolitisch unbedenklich angesehen. Der alte Streit zwischen dem Freiburger Imperativ des freien Leistungswettbewerbs und der Keynesianischen Botschaft des konjunkturellen Gegensteuerns ist heute in den Hintergrund gerückt. Das liegt auch daran, dass die negativen Ergebnisse der vulgär-keynesianischen Wirtschaftspolitik der 1960er und 1970er Jahre heute unbestritten sind. Diese Politik brachte Inflation und Verschuldung statt Wachstum und Beschäftigung.

Nur in wirklichen Ausnahmesituationen kann eine keynesianische Politik angebracht sein.

Das heißt aber nicht, dass dann alles zulässig ist. Was aber ist zulässig und was greift in die einzelnen Märkte ein? Konjunkturelle Globalsteuerung ist dann vertretbar, wenn wegbrechende private Nachfrage durch globale Nachfrage des Staates z. B. in die Infrastruktur oder durch globale private Nachfrage z. B. über Senkung der Steuern ersetzt wird. Dies gilt jedoch nur, wenn es sich um eine konjunkturelle Initialzündung  zur Überwindung einer sog. „sekundären Depression“ im Sinne Wilhelm Röpkes handelt und nicht um ein konjunkturpolitisches Dauerfeuerwerk.

Sehr bedenklich ist die immer wieder neue „Flutung“ von Märkten über eine Notenbankpolitik des billigen Geldes nach US-amerikanischen Beispiel. Hierdurch ist in historisch beispielloser Dimension ein sorgloser und das heißt unverantwortlicher Umgang mit der knappen Ressource Geld angereizt worden. Diese Politik hat die Weltfinanzkrise mit verursacht; durch ihre Fortsetzung wird der Keim für kommende Krisen gelegt. Beweggrund für eine solche Notenbankpolitik ist die Politisierung der Geld- und Zinspolitik im Dienste von konjunktur-, sozial- und beschäftigungspolitischen Zielen. Der Machbarkeitswahn eines neuen uferlosen staatlichen Interventionismus findet hier seinen sichtbarsten Ausdruck. Wenn der Staat im Rahmen von Konjunkturprogrammen in einen der Märkte eingreift, bestimmte Produzenten oder Produkte stützt wie z. B. bei der Abwrackprämie, dann ist das ein mit dem  Grundprinzip der Sozialen Marktwirtschaft unvereinbarer Markteingriff. Dieser Eingriff in den Markt rächt sich zumeist schnell, da er den Wettbewerb verzerrt und Wachstums- und Arbeitsplatzverluste an anderen Stellen des volkswirtschaftlichen Gefüges verursacht.

Die Anwendung des Prinzips Soziale Marktwirtschaft im Bereich der Konjunkturpolitik erweist folgende Maßnahmen als prioritär:

  • Verpflichtung zum Aufbau von Konjunkturausgleichsrücklagen in konjunkturellen Boom-Zeiten unter Nutzung des bisher nicht angewendeten § 15 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967.
  • Konsequente Sicherung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank gegenüber Interventionsversuchen von Staats- und Regierungschefs
  • Verpflichtung von Bundes- und Landesregierungen zur Darstellung von voraussichtlich eintretenden Wettbewerbsverzerrungen bei der Entscheidung für Konjunkturprogramme.

Strukturkrise

Die Anwendung des Prinzips Soziale Marktwirtschaft auf die gegenwärtige Strukturkrise führt zu folgenden Schlussfolgerungen:

Der Strukturwandel ist Bestandteil der Marktwirtschaft. Der kreative Unternehmer ist das Salz in der Suppe. Ohne Strukturwandel und ohne kreative Unternehmer gibt es keinen Wohlstand. Wie aber kann Unternehmen und Branchen geholfen werden, die sich z. Z. in einer Strukturkrise befinden?

Unerlässlich ist die Einhaltung des Kriteriums der Marktkonformität einer Maßnahme, d. h. Verzicht auf jeden unmittelbaren Eingriff in den Preisbildungsprozess.

Wichtig ist auch die Unterscheidung zwischen Anpassungs- und Erhaltungssubventionen. Anpassungshilfen, d. h. befristete Hilfen für Unternehmen, die sich in einem Anpassungsprozess an eine neue Marktsituation befinden, können ordnungspolitisch in Ordnung sein. Existenzgründern z. B. werden öffentliche Hilfen gewährt, um ihnen den Weg in den Markt zu ebnen. Erhaltungssubventionen, die den Strukturwandel aufhalten, sind klare Eingriffe in den Strukturwandel und in Marktprozesse und sind deshalb ordnungspolitisch abzulehnen.

Die Begriffe „Markt-Konformität“ sowie Anpassungs- bzw. Erhaltungssubventionen mögen in Grenzfällen unbestimmt sein; sie genügen jedoch in der praktischen Wirtschaftspolitik bei entsprechend gutem Willen zur Kennzeichnung von Maßnahmen, bei denen auf unverzichtbare Funktionen des Marktes Rücksicht genommen wird. Die Gewährung von Finanzhilfen an einzelne Unternehmen ist unabhängig von ihrer Betriebsgröße an folgende Voraussetzungen zu knüpfen:

  • Mithaftung von Personen, die Kraft ihrer Stellung als Eigentümer oder Gesellschafter wesentlichen Einfluss auf antragstellende Unternehmen ausüben können
  • Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit auf der Basis eines schlüssigen Konzeptes
  • Vermeidung gravierender Wettbewerbsverzerrungen

Die konsequente Einhaltung dieser Kriterien bei der Gewährung von Finanzhilfen an Unternehmen ist das wichtigste Handlungserfordernis der Wirtschaftspolitik und  der entscheidende Lackmustest der Ordnungspolitik in Deutschland.

Krise der Sozialen Sicherungssysteme

Mit schwerwiegenden Strukturproblemen in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme sind viele OECD-Länder seit langem konfrontiert. Diese Probleme sind nicht durch die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise verursacht, werden aber voraussichtlich durch die Krise verschärft. In Deutschland haben Teilbereiche der sozialen Sicherungssysteme z. B. durch die Gewährung von Kurzarbeitergeld in jüngster Zeit dazu beigetragen, ein Hochschnellen der Arbeitslosenzahlen vor allem bei Großunternehmen zu verhindern oder abzumildern. In diesem Zusammenhang wird jetzt von der automatischen Stabilisationswirkung sozialer Sicherungssysteme gesprochen. Diese konjunkturpolitisch positiven Effekte können aber nicht die mittel- und langfristig kritische finanzielle Lage fast aller Zweige der gesetzlichen Sozialversicherung überdecken.

Überall ist ein Ansteigen der sowieso hohen Beiträge zu den Sozialversicherungen trotz gleichzeitig zunehmender Steuerfinanzierung absehbar – sowohl auf Grund voraussichtlich krisenbedingt zunehmender Arbeitslosigkeit als auch auf Grund der gegebenen demografischen Belastung.

Wie die künftige Generation die Lasten aus der bisherigen und aus der durch die Finanz- und Wirtschaftskrise neu hinzukommenden Staatsverschuldung sowie die Lasten aus der Konstruktion unserer gesetzlichen Sozialsysteme schultern soll, ist ein ungelöstes Problem. Die intergenerative Gerechtigkeit ist in Schieflage. Ein Ausgleich durch eine die entsprechenden Altersgruppen fördernde Bildungs- und Familienpolitik ist nicht in ausreichendem Maß gegeben. Die dargestellten Defizite erfordern eine mit der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft vereinbare Neuorientierung der sozialen Ordnungspolitik.

Unstrittig ist: Eine gute Wirtschaftspolitik ist die beste Sozialpolitik. Je mehr das Ziel „Wohlstand für alle“  verwirklicht wäre und je geringer die Arbeitslosenrate ist, desto weniger sozialpolitische „Reparatur“-Arbeit ist erforderlich. Gerade durch die Krise ist jetzt aber der Wunsch breiter Bevölkerungskreise nach staatlichen Grundsicherungen noch stärker geworden. Gleichzeitig hat auch im Mittelstand die Erkenntnis vom Risiko ausschließlich kapitalgedeckter Systeme zugenommen. Es gibt eine schichtenübergreifende Tendenz zu einem neuen „Sicherheits-Konservatismus“. Positiv könnte diese Tendenz dazu beitragen, dass alte Schützengräben sozialpolitischer Auseinandersetzungen verlassen werden. Negativ könnte sich daraus die Konsequenz eines noch stärkeren Einbetonierens in den Strukturen nicht mehr zukunftsfähiger Umlagesysteme ergeben. Die Folge wäre das weitere Ansteigen der Lohnzusatzkosten und eine dadurch herbeigeführte Strangulierung künftigen Wirtschaftswachstums, d. h. das Versperren des einzigen Auswegs aus den absehbaren Krisenbelastungen.

Die Lösung können nach Lage der Dinge nur Mischsysteme in der Kombination von Umlage- und Kapitaldeckungs-Finanzierung sein. Hier ist ein historischer Kompromiss starker politischer und gesellschaftlicher Kräfte erforderlich. Es benötigt staatsmännische Kunst, diese Kräfte zu mobilisieren. Notwendig ist aus der Sicht von Handwerk und Mittelstand die Berufung einer hochrangigen Sozialenquete-Kommission mit dem Auftrag, die Umrisse der künftigen sozialen Ordnungspolitik aus dem Geiste der Sozialen Marktwirtschaft zu erarbeiten.

Klar ist jedenfalls eines: Die absehbaren Zukunftsbelastungen führen für jeden Einzelnen zu einem starken Verwiesensein auf seine eigene Kraft. Soziale Verantwortung, die die langfristige Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme in den Blick nimmt, wird ein wichtiger Orientierungsmaßstab für die Verwirklichung von Sozialer Gerechtigkeit sein müssen. Auch für staatliche Sozialpolitik gilt immer stärker Abraham Lincolns Satz: „Tue nie etwas für jemanden, was er selbst für sich tuen kann.“ Diese Maxime befreit nicht von der Abwägung in jedem Einzelfall; sie gibt aber einen Fingerzeig über die einzuschlagende Richtung.

Die Chance der Krise: Renaissance der Ordnungspolitik

Die gegenwärtige Krise bietet keinen Anlass, die Aktivitätsbereiche des Staates auf Dauer über das vor der Krise erreichte Ausmaß auszudehnen. Wenn die Wachstumskräfte stimuliert werden sollen, wird es notwendig sein, die staatliche Beanspruchung der volkswirtschaftlichen Leistungserstellung sukzessive wieder zurückzufahren. Die Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft waren stets für einen starken Staat im Bereich der Gestaltung des Ordnungsrahmens, aber nicht durch Eingreifen in Wirtschaftsprozesse. Daran gilt es nicht nur festzuhalten, sondern dafür gilt es zu werben über die Bundesrepublik Deutschland hinaus. Damit wir weder in die Spirale eines sich beschleunigenden Protektionismus hineingeraten noch im Finanzsektor das „Weiter so“ eines unbelehrbaren „Kasino-Kapitalismus“ erleben, benötigen wir eine ordnungspolitische Renaissance – nicht mehr und nicht weniger; dies heißt konkret:

Durchsetzung eines Ordnungsrahmens in Annäherung an die Prinzipien Walter Euckens mindestens auf EU-Ebene und möglichst auch auf der Ebene der OECD sowie der Ebene der G8- und der G20-Staaten.

Viele werden dies als unerreichbar bezeichnen. Dennoch muss es versucht werden. Die Chance dazu ist größer als je zuvor – gerade durch die Krise!

Die Sehnsucht der Völker nach einem Weg des wirtschaftlichen Humanismus ist überwältigend. 1989 erlebten wir das Fiasko des Sozialismus. Im zurückliegenden Jahr wurden wir Zeugen des Scheiterns eines Maß und Mitte außer Acht lassenden Kapitalismus. Staatsversagen, Marktversagen und Elitenversagen haben zu dieser Katastrophe beigetragen. Jetzt befinden sich die westlichen Gesellschaften in einem Zustand der geistigen Lähmung und Verwirrung. In dieser Situation ist die Soziale Marktwirtschaft – wie sie uns von den Gründervätern überliefert worden ist – ein ungeheurer Schatz.

Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ist von einigen der tiefgründigsten Ökonomen und Soziologen der letzten Jahrhunderte erarbeitet worden; in ihr schlägt sich eine herausragende wissenschaftliche Leistung nieder. Die Soziale Marktwirtschaft ist aber vor allem „geronnene Erfahrung“ – Erfahrung aus einigen der schlimmsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte, die sich politisch und wirtschaftlich seit dem 1. Weltkrieg in Deutschland abgespielt haben: Totale Inflation mit Vernichtung des Mittelstandes, großbetriebliche Machtzusammenballung durch Kartellbildung in der Weimarer Zeit, brauner Totalitarismus und braune Kommandowirtschaft, roter Totalitarismus und rote Kommandowirtschaft – all diese auf deutschen Boden gemachten Erfahrungen haben die Gründerväter verarbeitet, als sie die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft entwickelten.

Nach 1948 gelang hierzulande auf der Basis der Sozialen Marktwirtschaft als „drittem Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus ein fulminanter Aufstieg, dessen Strahlkraft trotz aller ordnungspolitischen Abirrungen bis heute erstaunlich geblieben ist. Freiheit und Bindung wurden in eine Balance gebracht. „Dritter Weg“ war und ist die Soziale Marktwirtschaft nicht im Sinne einer Äquidistanz zu Sozialismus und Kapitalismus, sondern als wettbewerblich gesicherte Marktwirtschaft mit sozialer Verantwortung. Im Zweifel stand und steht die Freiheit immer an erster Stelle. Zumindest für die Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft Erhardscher Prägung. Bindung konkretisierte sich für sie dabei vor allem im Aktivwerden der Kartellämter zur Begrenzung wirtschaftlicher Macht und nicht über einen möglichst hohen Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt.

Die jetzige Krise gibt die Chance, der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft über Deutschland hinaus Geltung zu verschaffen. Andere Länder müssen doch nicht alle Fehler selber machen, die auf dem großen Experimentierfeld der Wirtschaftsordnungen gemacht worden sind, das Deutschland in den letzten einhundert Jahren gewesen ist – bis 1948 mit immensen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kosten und danach mit beachtlichen Erträgen. Die Verantwortungsbotschaft der Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft ist gerade heute ein unübertroffener Kompass. Für Handwerk und Mittelstand ist organisierte Verantwortungslosigkeit der Ursachenkern der gegenwärtigen Krise.

In dem anfangs zitierten Gründungsdokument zur Sozialen Marktwirtschaft aus dem Jahre 1949 finden sich hierzu folgende geradezu prophetisch klingende Sätze: „Wir erstreben gesetzliche Maßnahmen zur Vertiefung einer echten Verantwortung in der Wirtschaft. Jeder, der an der Leitung von Betrieben teilhat, muss mit seinem persönlichen Vermögen am Risiko für Misserfolge teilnehmen. Nicht nur die Eigentümer, sondern auch die angestellten Vorstandsmitglieder müssen mit Haftung belegt werden, damit auf diese Weise der Gedanke der Verantwortung und des echten Leistungswettbewerbs auch in diesen Kreisen vertieft wird.“ Dies könnte gestern geschrieben sein.

Die Soziale Marktwirtschaft der Gründerväter gibt uns die ordnungspolitische Orientierung, die wir jetzt in der Krise so dringend benötigen. Ganz zentral ist dabei die Gemeinwohl-Orientierung der ordnungspolitischen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft: So war Ludwig Erhard nicht der Wirtschaftsminister der Wirtschaft oder irgendwelcher einzelner Interessengruppen, sondern Wirtschaftsminister des ganzen Volkes. Die Umsetzung der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft war für ihn Dienst am Gemeinwohl. Dafür kämpfte er mit Leidenschaft. Dadurch gewann er enorme Glaubwürdigkeit – nicht nur bei Handwerk und Mittelstand, sondern auch in breiten Kreisen der Arbeitnehmerschaft.

Auch heute gilt: Nur wenn die Regeln der Sozialen Marktwirtschaft konsequent gegen jedermann, ob reich oder arm, zur Geltung gebracht werden, wird es gelingen, die Legitimationswirkung für unsere Wirtschaftsordnung in unserem Volk neu zu pflanzen. Nur dann werden die Menschen diese Ordnung als fair ansehen. Dies ist über den Bereich der Wirtschaft hinaus von größter Bedeutung:

Denn nur Menschen, die sich einer fairen Ordnung gegenüber sehen, werden ihr Gemeinwesen verteidigen. Sie werden nicht nur ihre Rechte einfordern, sondern auch ihre Verantwortung wahrnehmen. Diese Menschen werden die Bürger-Gesellschaft der Zukunft bauen.

verantwortlich: Dr. Thomas Köster

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